Frankfurter Buchmesse Interaktive Lesekarte für den Bücher-Herbst
Die Frankfurter Buchmesse lockt von Mittwoch bis Sonntag
7300 Aussteller aus mehr als 100 Ländern an. Gastland bei dem größten deutschen
Branchentreffen des Literaturbetriebs ist dieses Jahr Georgien.
Doch die
Neuerscheinungen entführen nicht nur in den Kaukasus, sondern auch nach Reims,
auf einen Berggipfel von Lanzarote oder in einen deutschen Garten.
Auf dieser
Weltkarte können Sie sich die Lektüre nach Handlungsort auswählen.
Link-Liste und Credits
Mehr rund um die Buchmesse und Literatur gibt es hier:
Weshalb es in diesem Jahr keinen Literaturnobelpreis gibt
Ein Interview mit der Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke
Ein Multimedia-Porträt: Ein Hausbesuch bei Annette Hess,
Autorin der Erfolgsserie „Weissensee“
Welche Bücher sollte man unbedingt lesen? Die
Schriftstellerin Helene Hegemann stellt ihren ganz persönlichen Literaturkanon
vor.
Netflix für Hörbücher: Das Smartphone wird zur Quelle für Hörgeschichten
Die Zahl der Buchkäufer geht immer weiter zurück. Dabei kann
das Eintauchen in andere Welten lebenspraktische Hilfe sein. Eine
Liebeserklärung ans Lesen
Texte: Nina May, Kristian Teetz,
Martina Sulner, Stefan Stosch und Ruth Bender
Produktion: Amina Linke und Geraldine Oetken
Reims Krieg und Kulturkampf in Reims Von Kristian Teetz
Der
Brand der Kathedrale von Reims gehört zu den außerordentlichen Ereignissen des
Ersten Weltkriegs. Kaum etwas hat das deutsch-französische Verhältnis so sehr
geprägt wie der Angriff der deutschen Truppen auf das Gotteshaus. Denn die
Kathedrale von Reims war Krönungsort der französischen Könige, ein
Nationalheiligtum. Der Kulturhistoriker Thomas Gaethgens erzählt nun eine
ausführliche Geschichte des Feuers und seiner Folgen. Er beginnt mit dem
militärischen Angriff und geht über in die Beschreibung des anschließenden
Kulturkampfes. Gaethgens hat viele Quellen und den neuesten Forschungsstand zu
einem sehr lesbaren Buch geformt. Er fragt, warum sich Intellektuelle auf
beiden Seiten für Kriegspropaganda zur Verfügung stellten, und ob
Kulturdenkmäler wichtiger sind als Menschenleben. In Kombination mit der
außergewöhnlichen Sammlung von Fotos wird dieses Buch zu einem spannenden
Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs.
Thomas
Gaethgens: „Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten
Weltkrieg“. C. H. Beck. 351 Seiten,
29,95 Euro
Kaukasus Einblicke in Georgiens archaische Welt Von Ruth Bender
Tausend
Tage ist Awtandil durch die Welt gezogen, durch Schneefall, Hitze und Sturm, um
für seine Geliebte, Prinzessin Tinatin, das Rätsel eines einsamen Reiters im
Leopardenfell zu enthüllen. Doch der unbekannte Kämpfer, der mit seiner
Peitsche tödliche Hiebe austeilt, bleibt verschwunden. So beginnt die Sage „Der
Held im Pardelfell“, die in Georgien jedes Kind kennt und nach deren Dichter
Schota Rustaweli der Flughafen von Tiflis benannt ist. Nacherzählt hat das um
1200 entstandene georgische Epos nun der Journalist Tilman Spreckelsen.
Eine
archaische Welt entfaltet sich, von blutigem Kampf und romantischer Liebe, für
deren Erzählung die Kulisse des Kaukasus wie ein Verstärker wirkt. Natürlich
findet der junge Held den Leopardenmann – aber auch ein Stück seiner eigenen
(Liebes-)Geschichte, die mit der des Fremden seltsam verknüpft ist. Ein
bisschen liest sich das wie: Ritter- und Heldensage trifft Tausendundeine
Nacht. Das Gefühl setzt Kat Menschik in ihren ausdrucksstarken Bildern fort.
Und Spreckelsen hat eine schnörkellos moderne Sprache gefunden, die die ferne,
fremde Vergangenheit vorsichtig heranzoomt. Ein guter Einstieg in das
diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse.
Tilman Spreckelsen, Kat Menschik: „Der Held im Pardelfell. Georgische Sage
von Schota Rustaweli“. Galiani. 208 Seiten, 25 Euro
Ein deutscher Garten Der Rettich als Stoßgebet und andere Gedichte Von Nina May
Für
seine „Regentonnenvariationen“ erhielt Jan Wagner 2015 den Preis der Leipziger
Buchmesse. Auch in seinem jüngsten Lyrikband werden Beobachtungen aus dem
Garten auf eine andere Ebene gehoben. Der Rettich erscheint hier wie ein
Stoßgebet („Hätt ich, Hätt ich“), die Säge als Schicksalsobjekt („wer wüsste
mehr von trennen und gelingen / zugleich?“). Wagner ist ein Meister darin,
Alterserfahrungen mit Bedeutung aufzuladen. So wird der muffige Geruch beim
Wühlen in einem Schrank zum Impuls für eine geistige Zeitreise zu Mammuts im
Permafrost. In dem Gedicht „kleiner krähenhymnus“ haben die Strophen im Druck
die Form eines Vogelschwarms. Doch Wagner ist kein Naturidylliker. Im Gedicht
„am ganges“ treibt die aufgedunsene Leiche eines Wasserbüffels durch den Fluss,
Marder reimt der Dichter auf Märtyrer. Und die Verse über „die live butterfly
show“ handeln von dem Desinteresse des lyrischen Ichs an einer
Schmetterlingsshow. Der Büchner-Preisträger hat Poesie einmal als „Magie
zweiter Ordnung“ bezeichnet. Die beschwört er hier wieder mit sprachlicher
Präzision.
Jan Wagner: „Die Live Butterfly Show“. Hanser Berlin. 104
Seiten, 18 Euro
USA Vom Glück einer Freundschaft Von Stefan Stosch
Ende
der Sechzigerjahre können Jungs noch sicher sein, dass ihnen die schönste
Langeweile nicht durchs Piepen eines Smartphones kaputt gemacht wird.
Sommernachmittage lang liegen sie im Gras, rauchen heimlich – und wenn sie Pech
haben, stecken sie dabei den Sportplatz in Brand. So passiert es dem
zehnjährigen J. J. und seinem besten Kumpel. Glücklicherweise weiß der
superschlaue El Greco, Sohn griechischer Einwanderer, immer einen Ausweg. Und
doch sickert die unbarmherzige Wirklichkeit in diese amerikanische
Kindheitswelt. Davon erzählt Autor Mark Thompson in seinem souveränen
Romandebüt „El Greco und ich“. Denn im Hintergrund rumoren gesellschaftliche
Umbrüche. Särge mit jungen Männern kehren heim aus Vietnam, Bürgerrechtler
werden erschossen, der Mensch fliegt zum Mond. Und Schicksalschläge drohen.
Gut, dass da der traurige Nachbar Old Man Taylor auf seiner Terrasse sitzt: Bei
ihm findet J. J. Trost in dieser anrührenden Geschichte über den Halt, den eine
Freundschaft zwei Jungs bietet.
Mark
Thompson: „El Greco und ich“. Mare. 224 Seiten, 20 Euro
Berlin Das anarchistische Känguru ist wieder da Von Kristian Teetz
Fans
des Autors Marc-Uwe Kling und seines vorlauten, anarchistischen,
Schnapspralinen futternden Kängurus bedauern seit Jahren, dass nach den
„Känguru-Chroniken“, dem „Känguru-Manifest“ und der „Känguru-Offenbarung“
Schluss sein sollte mit den Kult-Geschichten. Zwar konnten sich Kling-Jünger im
vergangenen Jahr an dem Roman (und dem Hörbuch) „Qualityland“ erfreuen. Aber
die Geschichten vom Känguru fehlten einfach. Nun hat das Warten ein Ende: In
den „Känguru-Apokryphen“ geht der Wahnsinn in der ungewöhnlichen WG weiter. In
feinster chaotischer Känguruweise wird Schnick Schnack Schnuck ohne feste
Regeln gespielt, das Schnapstrinken in bester Kantscher Manier „kategorischer
Aperitif“ genannt und die Notwendigkeit, das Zimmer aufzuräumen, mit dem
zweiten Hauptsatz der Thermodynamik begründet („Die Wiederherstellung des
geordneten Anfangszustandes kann nicht von selbst, sondern nur durch den
Einsatz von Energie von außen, in unserem Fall von dir, erfolgen.“)
Känguru-Freunde werden angesichts dieser neuen Geschichten (die auch wieder als
Hörbuch erscheinen) vor Freude beuteltierhaft umherhüpfen. Und sich einen
kategorischen Aperitif gönnen.
Marc-Uwe Kling: „Die Känguru-Apokryphen“. Ullstein. 208 Seiten, 9 Euro
(erscheint am 12. Oktober)
Lanzarote Radtour in die traumatische Kindheit Von Nina May
„Erster-Erster,
Erster-Erster“. Dieses Mantra trichtert Henning der Rhythmus seines Fahrrads
ein, mit dem er sich auf einen Berg auf der Insel Lanzarote kämpft. Es ist der
Neujahrsmorgen, und Henning nutzt die Einsamkeit auf dem Rad als Tour de Force
der Selbstvergewisserung: Ist seine Ehe mit Therese ein einziger Akt des
Das-Beste-draus-Machens? Haben die Kinder sein Leben gekapert? Die Autorin Juli
Zeh belässt es nicht bei dieser Schilderung einer Ehekrise und Midlife-Crisis:
Auf dem Berg angekommen, bemerkt Henning, dass er schon einmal hier war. Die
zweite Hälfte des schmalen Romans ist dann eine spannende Kindheitserinnerung
mit traumatischen Erlebnissen. Der junge Henning fand sich damals bei einem
Familienurlaub allein mit seiner jüngeren Schwester in der Ferienwohnung wieder
und fühlte sich für ihr Überleben verantwortlich. Die Angst von damals hat er
lange verdrängt, aber sie hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. Die
Kanareninsel, die sich mit jedem Vulkanausbruch im Sinne des Neujahrsgedankens
neu erfindet, bietet eine atmosphärische Kulisse für diese Geschichte.
Juli Zeh: „Neujahr“. Luchterhand. 192 Seiten, 20 Euro
Teneriffa Hundert Jahre auf der Inselgruppe Von Martina Sulner
Der
Blick hat sich geweitet: In ihrem 2013 veröffentlichten Roman „Rechnung offen“
schilderte Inger-Maria Mahlke die Zustände in einem Berliner Mietshaus – hinter
jeder Wohnungstür ein Schicksal, und überall die Stimmung, dass jetzt auch in
Neukölln alles schicker, teurer und für viele Bewohner nicht mehr bezahlbar
wird.
In
ihrem neuen Buch „Archipel“, das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis
steht, schreibt die 1977 geborene Autorin über Teneriffa. Von dort stammt ihre
Mutter, und die in Lübeck aufgewachsene Schriftstellerin hat dort viele Ferien
verbracht. Mahlke spannt einen großen Bogen und erzählt vom Leben mehrerer
Familien in den vergangenen 100 Jahren, etwa auch zu Zeiten des Spanischen
Bürgerkriegs. Die Geschichte setzt in der Gegenwart ein, geht von dort aus
immer weiter zurück. Manchmal ist man von den vielen Figuren und den
zahlreichen Details etwas ermattet, doch gegen Ende des spannenden (und auch
lehrreichen) Romans kommen alle Fäden zusammen – geknüpft von einer souveränen
Erzählerin.
Inger-Maria Mahlke: „Archipel“. Rowohlt. 432 Seiten, 20 Euro
London Zwischen Schmugglern und Spionen Von Martina Sulner
Kurz
nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist London nachts kaum beleuchtet. Noch immer
gibt es zahlreiche verdunkelte Fenster, zerstörte Laternen – und Menschen, die
die Helligkeit scheuen. Mehreren von ihnen begegnet der 15-Jährige Nathaniel in
„Kriegslicht“, dem neuen Roman von Michael Ondaatje. Der Icherzähler beschreibt
die Zeit, als seine Eltern plötzlich das Land verlassen und ihn und seine
Schwester einem dubiosen Typen anvertrauen. Dass irgendetwas mit den Eltern
nicht stimmt, ahnt der Leser von Anfang an. Doch Nathaniel begreift erst viel
später, als er die Geschichte seiner Familie rekonstruiert, was genau in diesen
Jahren eigentlich geschehen ist.
Wie in seinem Welterfolg „Der englische Patient“ erzählt der
Kanadier, geboren 1943 in Colombo, großartig von Liebe und Lügen, von
Schmugglern und Spionen. Wundervoll verwebt er Vergangenheit und Gegenwart und
lässt alle Schritte Nathaniels, der sich in die Welt der Gauner ziehen lässt,
plausibel erscheinen. Ein traumhafter Roman.
Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Deutsch von Anna
Leube. Hanser. 320 Seiten, 24 Euro
Ein fiktives Land in Afrika Rätselhafter Kult um einen archaischen Vogelgott Von Nina May
Dieser
Schauerroman ist die große Überraschung auf der diesjährigen Shortlist zum
Deutschen Buchpreis: „Der Vogelgott“ rührt an archaische Ängste, Natur
erscheint hier als unheimlicher Ort. Die Mitglieder einer Wissenschaftsfamilie
werden durch eine zufällige Entdeckung auf einem Kirchenbild in den Mythos
eines Vogelgottes hineingezogen. So viel Fluggetier war nicht mehr seit Alfred
Hitchcock. Der Leser erfährt etwa, dass der Wiedehopf als Seelenbegleiter in
die Unterwelt gilt. Was genau es mit dem Vogelgott auf sich hat, wird in diesem
verschrobenen und rätselhaften Roman offengelassen. Seine Verehrer leben am
Rande der Zivilisation, wohl irgendwo in Afrika, die Region ist von
Bürgerkriegen erschüttert. Die Mitglieder der Weyde-Familie verlieren sich auf
ihren Expeditionen in dieser Berglandschaft: der vogeljagende Vater, die
Kunsthistorikerin Dora, der in einer Irrenanstalt landende Thedor und der
Journalist Lorenz, der über den Kult schreibt. Und auch der Leser verliert sich
in diesem ungewöhnlichen Roman, der trotz gelegentlicher esoterischer Eskapaden
einen Sog entfaltet. Nicht nur für Ornithologen.
Susanne
Röckel: „Der Vogelgott“. Jung und Jung. 272 Seiten, 22 Euro
Stanstead (Kanada) Von Grenzen und Grenzgängern Von Kristian Teetz
Wir
leben in einem Zeitalter der zunehmenden Abschottung. Hatte es während des
Kalten Krieges nur 19 Grenzzäune, -mauern und -absperrungen gegeben, werden
heute 60 neue geplant oder errichtet. Reporter sind in alle Welt gefahren, um
von diesen trennenden Orten zu berichten. Diese Texte von Grenzen zwischen den
USA und Mexiko, zwischen Israel und Gaza, Armenien und Aserbaidschan, Nord- und
Südkorea sind in dem Sammelband „Ausgeschlossen. Eine Weltreise Entladung
Mauern, Zäunen und Abgründen“ versammelt. Sie erzählen aber auch von anderen
Mauern, etwa in Brasilien, wo sie die reichen Wohnviertel vom Rest der Stadtbewohner
in Rio oder Sao Paulo abgrenzen. Eine besondere Geschichte erzählt das Buch aus
Stanstead. Mitten durch die dortige Bibliothek verläuft die Grenze zwischen den
USA und Kanada, markiert durch einen schwarzen Klebestreifen, der über den
Parkettboden verläuft. Kanadier, die in die Haskell Free Library wollen, müssen
den Eingang nehmen, der in den USA liegt. Solange sie auf dem Bürgersteig
bleiben, benötigen sie kein Visum. Parken sie allerdings ihr Auto an der
Caswell Avenue, an der die Bibliothek liegt, verstoßen sie schon gegen die
Einwanderungsbestimmungen. Ein Buch voller überraschender Geschichten.
Marc
Engelhardt: „Ausgeschlossen. Eine Weltreise entlang Mauern, Zäunen und
Abgründen“. DVA. 288 Seiten, 18 Euro
München Das Verschwinden der Schmetterlinge Von Kristian Teetz
Viel
ist das Verschwinden der Bienen und anderer Insekten in der jüngsten
Vergangenheit beklagt worden. Auch die artenreichste Ordnung der Insekten ist
stark gefährdet: Die Zahl der Schmetterlinge geht dramatisch zurück. Der
Biologe Josef H. Reichholf hat nun seine Erkenntnisse aus 50 Jahren
Schmetterlingsforschung aufgeschrieben. Er erzählt, wie in seiner Jugend die
Wiesen voller Schwalbenschwänze, Bläulinge und Schachbrettfalter waren – es
waren so viele Tiere, dass „niemand daran gedacht hätte, sie zu zählen“. In den
vergangenen 50 Jahren hat laut Reichholf „die Häufigkeit unserer Schmetterlinge
um über 80 Prozent“ abgenommen. Eine Ursache sieht der langjährige
Sektionsleiter Ornithologie der Zoologischen Staatssammlung München im
Maisanbau. Er kritisiert die industrielle Landwirtschaft und fordert neben
einer Reduzierung von Pflanzengiften eine umfassende umweltpolitische Wende. Um
zu verstehen, was uns verlorenzugehen droht, stellt Reichholf Arten wie den
Totenkopfschwärmer vor, die hierzulande leben. Sein Plädoyer: Es wird Zeit für
ein neues Naturverständnis.
Josef
H. Reichholf: „Schmetterlinge. Warum sie verschwinden und was das für uns
bedeutet“. Hanser. 288 Seiten, 24 Euro
Eine Parallel-USA Als den Frauen die Sprache geraubt wurde Von Nina May
Sie
dürfen nur 100 Wörter am Tag sprechen. Wenn das Kontingent aufgebraucht ist,
verpasst ihnen das Armband um ihr Gelenk einen Stromstoß. Aber wenigstens
können sich die Frauen die Farbe ihres Folterinstruments selbst aussuchen. Die
feministische Dystopie „Vox“ stellt in der guten Tradition von Margaret Atwood
die Frage: Wie kann sich ein demokratischer Staat wie die USA binnen Kurzem in
eine Diktatur verwandeln, die die eine Hälfte der Menschheit zu stummen
Haussklavinnen macht? Beim Lesen möchte man manches Mal vor Empörung
aufschreien. Der Roman erscheint im Hinblick auf die frauenverachtenden
Kommentare des US-Präsidenten Donald Trump erschreckend aktuell. Die Autorin
spielt unverhohlen auf ihn an, wenn sie vom Machtwechsel im Weißen Haus spricht
und einem Idioten, der sich zum Handlanger eines Fernsehpredigers und seiner
Bewegung der „Reinen“ macht.
Dalcher
versteht ihren Roman als Warnruf gegen eine Politik der Geschlechtertrennung.
Erzählt wird die spannende Geschichte bezeichnenderweise aus der Perspektive
einer
Linguistin.
Christina
Dalcher: „Vox“. Fischer. 400 Seiten, 20 Euro
Paris Ein Hochstapler im Literaturbetrieb Von Kristian Teetz
Alles
beginnt mit einer kleinen Lüge: Als der Schriftsteller Daniel Brodin im Kreise
von Pariser Intellektuellen aufgefordert wird, eines seiner Gedichte
vorzustellen, verkauft er ein von ihm zwar übersetztes, aber nicht selbst
geschriebenes Werk als sein eigenes. Ein Schwindel mit Folgen: Daniel
steht kurz vor seinem Durchbruch in der literarischen Hochgesellschaft, gerät
aber auch in den Dunstkreis einer Gruppe avantgardistischer Literaturrebellen.
Die Graphic Novel ist angesiedelt im Paris der Fünfzigerjahre. Jean-Paul
Sartre, Simone de Beauvoir und der Existenzialismus bilden die historische
Grundlage, ohne dass sie in der Erzählung vorkommen. Die berühmten Autoren sind
quasi abwesende Anwesende (um dann doch in einem Bild zu erscheinen). Der
Protagonist in der von Alessandro Tota getexteten und Pierre van Hove gezeichneten
Graphic Novel ist ein Getriebener, ein Antiheld, der sein Mäntelchen nach dem
Wind hängt und nicht Herr der Situation ist. Die Erzählung, deren Verfilmung
bereits geplant ist, erzählt vom legendenreichen Jahrzehnt der Pariser
Künstler- und Intellektuellenszene und von Zeiten, in denen Literatur noch
Inhalt von erbitterten gesellschaftlichen Debatten sein konnte.
Alessandro
Tota, Pierre van Hove: „Der Bücherdieb“. Reprodukt. 176 Seiten, 20 Euro
Vals (Schweiz) Das Geheimnis der Therme von Vals Von Kristian Teetz
Die
Therme im schweizerischen Vals gehört zu den berühmtesten und schönsten Werken
des Stararchitekten Peter Zumthor. In der Graphic Novel „Der Magnet“ wird
dieser klare, schnörkellose Bau zu einem geheimnisvollen Ort, an dem
merkwürdige Dinge geschehen. Der junge Architekturstudent Pierre – ein Alter
Ego des Zeichners und Autors des „Magneten“ Lucas Harari – fühlt sich angezogen
von dem Bau. Ein alter Mythos der Region besagt, dass der Berg alle 100 Jahre
einen Fremden anlockt und verschluckt. Der labile Pierre findet einen seltsamen
Stein und trifft auf einen merkwürdigen Alten, eine hilfsbereite junge
Frau – und einen bedrohlichen Architekturexperten. Und er entdeckt, dass sich
hinter der Tür in der Therme eine andere, fiktive Welt findet. Lucas Hararis
Erstling ist auch eine Hommage an Comiczeichner wie Hergé und E. P. Jacobs. Vor allem aber
zeigt sich die Liebe des Autors zur Architektur und zur Therme von Vals, von
der er sagt, dass sie „die eigentliche Essenz dessen darstellt, was Architektur
sein soll“. Diese wunderbare Graphic Novel bringt uns diesen Bau näher.
Lucas
Harari: „Der Magnet“. Edition moderne. 144 Seiten, 32 Euro