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Berliner Mauer

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Am 5. Februar 2018 steht die Berliner Mauer genauso viele Tage nicht mehr, wie sie einst existierte. Aber es gibt immer noch Überraschungen: Ein Hobbyforscher hat das letzte unbekannte Stück des Bauwerks entdeckt.

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Das letzte unbekannte Stück Berliner Mauer steht direkt neben dem Bahndamm der S-Bahn. Versteckt war es nie. Aber außer dem Hobbyhistoriker Christian Bormann hat einfach keiner genau hingeschaut. Jeder, der an der Station Berlin-Schönholz auf den Zug wartet und nach Osten schaut, hat es im Blick.

Es sieht aus wie irgendeine Mauer. Aber es ist – die Mauer. Ein sehr spezieller, bislang vergessener Teil von ihr. 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage trennte die Mauer Berlins Osten vom Westen. Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989. Für viele fühlt es sich so an, als wäre es gestern gewesen. Andere können mit der Mauer nichts mehr anfangen, so lange ist es schon her.

Am 5. Februar 2018 sind 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage seit dem Fall der Mauer vergangen. Berlin ist also genauso viele Tage wieder vereint, wie es einmal durch Stacheldraht getrennt war.

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An der East Side Gallery an der Spree schieben sich Touristengruppen aus Spanien, Italien und überall an den denkmalgeschützten Kunstwerken vorbei.
Es ist zugig, sie machen Fotos. Warum sind sie hier?
Mary aus Dublin sagt: „Eine Freundin hat es mir empfohlen.“ Was weiß sie von der Mauer?
„Nichts, ähm … Leute sind drübergesprungen und dabei erschossen worden, richtig?“ Ja, richtig. Lange her. Nicht vergessen.

Weitab des Touristen-Berlins, neben dem Bahndamm von Schönholz, sieht es so aus, als ob die Mauer nicht vor 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen, sondern erst vor Kurzem fiel und verschwand.
Hier ist der Mauerstreifen noch verwildert, voller Müll und Trümmer. Ein vietnamesischer Zigarettenverkäufer wühlt in einem Busch nach seinen unverzollten Schätzen. Im hohen Norden Berlins scheint die Zeit langsamer zu vergehen.

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Alle paar Minuten hört man die Türsignale der S-Bahn, nur unwesentlich seltener donnern Jets im Landeanflug Richtung Tegel über die Köpfe. Hier hat sich nie jemand für den bröckelnden Mauerrest interessiert. Außer eben dem 37-jährigen Christian Bormann.

Ende Januar machte er auf seinem Blog „Pankower Chronik“ eine „kleine Sensation“ öffentlich. „80 Meter innerdeutsche Staatsgrenze im Urzustand entdeckt.“ Das mit der „kleinen Sensation“ war untertrieben: Über Bormann brach ein internationaler Presserummel herein. Der amerikanische Bezahlfernsehsender HBO nannte ihn sogar „den Indiana Jones von Berlin“.

Bormann wächst in Pankow auf, in der Hauptstadt der DDR. Einige seiner Schulfreunde wohnen in Mietshäusern mit direktem Mauerblick. Die Hinterhöfe von Pankow sind ihr Revier. „Damals gab es zwar die Mauer, aber keine Zäune zwischen den Häusern“, erinnert sich Bormann.

Unendlich weit fühlt sich ihre Welt an. Immer, wenn die DDR-Führung im nahen Schloss Niederschönhausen Staatsgäste empfängt, wurden die Vorderhäuser an den großen Straßen frisch getüncht und die Fahnenhalter an den Protokollstrecken bestückt. Die Hinterhäuser aber stehen leer, ihre Eingänge sind vermauert. Bormann und seine Freunde steigen durch die Kellerfenster ein und erkunden verlassene Wohnungen voller zurückgebliebener Schätze.

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Kaum ist die Mauer gefallen und der Grenzstreifen zugänglich, zieht der zehnjährige Christian Bormann mit seinen Kumpels los und besprüht den „Schutzwall“ von der Ostseite aus. Einer seiner Spielplätze wird der „Mauerfriedhof“. Am Pankower Grenzstreifen werden große Teile der innerdeutschen Grenzbefestigungen geschreddert. Bormanns erste eigene Wohnung liegt direkt daneben. „Wenn man die Fenster nicht schloss, hatte man den Staub der Geschichte zwischen den Zähnen“, erzählt er.

Einige Tage sind seit dem Blog-Eintrag vergangen, Christian Bormann pirscht wieder durch das Trümmerwäldchen zu seinem Mauerstück. Gerade scheint es so, als würde alles zusammenbrechen, als könnte der Mauer-Hype ihn mit sich reißen.

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Das Landesdenkmalamt Berlin hat ein Gutachten erstellt. Darin steht, Bormanns Mauer sei „nur eine grenznahe Mauer“ und keineswegs Teil der Staatsgrenze. Zudem läge sie in West-Berlin und könne schon deshalb kein DDR-Mauerstück sein. „Das kann sich ganz schnell drehen. Dann bin ich vor der ganzen Welt der Idiot. Da muss ich schnell etwas machen“, sagt Bormann.

Die Panik beginnt, von ihm Besitz zu ergreifen. Er stapft weiter über den glitschigen, unebenen Boden, zeigt die Beweise: „Mauern, die hier vorher standen, wurden am 13. August benutzt, um die Grenze zu sichern.
Diese Mauer steht direkt auf dem originalen Grenzverlauf. Die Metallträger für den Signaldraht sind oben eingemauert worden, sie zeigen nach Osten.“

Google Animation der Berliner Mauer
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Dagmar Menzel und Udo Knoche drängen sich unter einem Schirm aneinander und schauen Bormann skeptisch an. Die beiden 69-Jährigen sind in Schönholz aufgewachsen. „Die Mauer war hier nicht“, brummen sie. „Das wissen wir.“ Sie erzählen von einer Kindheit im Berliner Norden, der plötzlich zum Grenzland wurde.

Bis 1961 ging man noch unbehelligt hin und her. Dagmar Menzel kaufte ihrem Onkel immer Zigarren im West-Kiosk. Am 13. August rollten dann die Grenzsoldaten Stacheldraht aus und bauten einen Schlagbaum auf der Hauptstraße auf. Wer ins Grenzgebiet wollte, musste einen Passierschein vorzeigen.

Udo Knoches Mutter hatte immer einen. Sie arbeitete bei der Schlösserfabrik Frieper, direkt am Bahndamm. Auch Dagmar Menzel kennt den Betrieb, sie war dort mit ihrer Klasse zum Produktionsunterricht eingeteilt. Erst 1966 wurden die Betriebe geschlossen und die Häuser abgebrochen, sagt sie.

Aber die Mauer zum Bahndamm wurde stehen gelassen. Hat man sie dann erst erhöht und mit Signaldraht ausgerüstet, als zusätzlicher Schutz? Oder schon vorher, damit die Frieper-Arbeiter nicht in der Mittagspause abhauen konnten?

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In den Tagen nach dem 13. August sind auch in Schönholz Soldaten über den Stacheldraht gesprungen und in den Westen getürmt, berichten Menzel und Knoche. Aber hier oben gab es keinen Fotografen, der ihre Flucht festhielt und damit weltberühmt wurde wie an der Bernauer Straße im Stadtzentrum.

„Dass Menschen abgehauen sind, konnte ich nachvollziehen“, sagt Menzel, „ich fand es ja auch schlimm, dass wir geteilt waren.“ Ihre Großmutter und ihre Tante wohnten zwei Straßen weiter – aber auf der anderen Seite der Bahn. Und nach dem Mauerbau plötzlich in einer anderen Welt. „Unsere Oma ist drüben manchmal auf die Brücke gestiegen und hat gewunken. Dann konnten wir sie vom Balkon aus sehen.“

Zu ihrer Beerdigung, kurz vor dem Mauerfall, durften dann weder ihr Vater noch sie fahren. Dass die Mauer noch mal aufgeht, hätten sie damals nie gedacht. „Heute wissen die meisten gar nicht mehr, wo sie mal war“, sagt Udo Knoche. „Aber in einigen Köpfen steht sie immer noch.“

Die beiden wenden sich zum Gehen. Sie haben genug gesehen vom Trümmerwäldchen in ihrem alten Kiez. Aber wer hat nun recht?

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Bormann holt zwei Karten hervor, dicke Regentropfen fallen darauf. Die eine zeigt den Grenzverlauf 1958, die andere 1988. Die Mauer nahm im verwinkelten Verlauf der alten Bezirksgrenzen nicht jede Ecke mit. Ende der 1960er-Jahre, allerspätestens aber Mitte der 1970er, als die glatte Betonmauer mit dem oben aufgesetzten runden Asbestrohr durch ganz Berlin gezogen wurde, hat man auch in Schönholz den Grenzverlauf begradigt. Ein Jahr vor dem Mauerfall einigten sich die DDR und West-Berlin auf einen Gebietsaustausch. Das Niemandsland am Bahndamm wurde dann an den West-Berliner Bezirk Reinickendorf abgegeben.

So, wie das Trümmerwäldchen heute aussieht, darf bezweifelt werden, dass bis zum heutigen Tag irgendjemand im Reinickendorfer Rathaus gemerkt hat, dass ihre Welt hinter der Bahntrasse noch ein kleines Stückchen weitergeht. Vermutlich hat auch nie jemand im Westen mitbekommen, dass ihnen die DDR ein kleines Stück ausgemusterte Mauer vermacht hat. Die West-Berliner Mauer – welche Sensation wäre das damals gewesen.

Die Stiftung Berliner Mauer bestätigt später: Bormanns Mauer ist echt. Die Aufsätze an ihrer Krone sind die Arbeit der DDR-Grenztruppen.

So steht und bröckelt sie bis heute vor sich hin. 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage, nachdem in Berlin und mitten durch Deutschland eine Grenze verschwand.

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Etwa 160 Kilometer lang war die deutsch-deutsche Grenze rund um West-Berlin. Am 13. August 1961 riegelte die DDR-Regierung sie ab, erst mit Stacheldraht, dann durch eine Mauer sowie ein immer ausgefeilteres Grenzsicherungssystem. Zusätzlich zur eigentlichen Mauer wurde ein Grenzstreifen angelegt, dessen Breite je nach Lage im Stadtgebiet variierte. Meist war er rund 70 Meter breit, am Potsdamer Platz aber bis zu 500 Meter. Noch vor dem Grenzstreifen lag ein Sperrgebiet, das nur mit Passierschein oder spezieller Erlaubnis betreten werden durfte.

Die erste Mauer (ab 1961) war rund zwei Meter hoch und aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt. Teilweise wurden auch bestehende Mauern und Gebäudeteile genutzt. Ab Mitte der 1960er-Jahre ersetzte die zweite Mauergeneration dieses Bauwerk. Sie bestand aus Betonplatten, die zwischen Stahlbetonstützen aufgeschichtet wurden. Die dritte Mauergeneration hieß „Grenzmauer 75“ und bestand aus den bekannten 3,60 Meter hohen Stützwandelementen, die oben mit einem Betonrohr abschlossen. Eine geplante „Hightech-Mauer“ namens „Grenzsicherungsanlage 90“ mit Sensoren und Infrarotschranken kam nicht mehr zum Einsatz.

Mindestens 140 Menschen wurden zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer getötet oder kamen im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben.

Rund 43 Prozent aller Berlin-Besucher kommen wegen der Geschichte der Stadt, also auch wegen der Mauer, hat eine Studie 2016 ergeben. Dabei ist das Interesse im Ausland größer: 53 Prozent der internationalen Gäste gaben an, besonders wegen der Geschichte Berlins anzureisen, bei den deutschen Besuchern waren es 34 Prozent. 956.000 Besucher kamen 2017 in die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße.

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